Skyscraper Novosibirsk

Tradition vs. die Vereinheitlichung der Welt

Es ist erstaunlich, wie sich das weit und immer weiter weg Sein hier, in Sibirien, (fast) nur noch in Bahnstunden, Ticketpreisen und Zeitzonen manifestiert. Kulturell könnte ich immernoch in Polen sein. Oder Weißrussland. Oder Moskau. Oder Novosibirsk.

Man erwartet, dass, je weiter man sich von Zuhause entfernt, die kulturelle Andersartigkeit zunimmt. In Russland aber, dem Land dass größer und ferner reicht als jedes andere Land unserer Erde, das sich über 9 Zeitzonen und zwei gigantische Kontinente erstreckt, stimmt diese Theorie nicht.

Abgesehen von ein paar mehr asiatisch aussehenden Menschen (Man entschuldige bitte an dieser Stelle meine politische Inkorrektheit. Beim Reisen in der Fremde gehört die Wahrnehmung „so und so aussehender oder klingender“ Menschen zu meinen einzigen Orientierungspunkten.), ein bisschen mehr chinesischem Tee, ein paar wenigen goldenen Stupas und einer Namens- sowie Größenveränderung der Pel`meni ist es hier, im burjatischen Ulan-Ude (5640 Kilometer auf der Transsib von Moskau), wie in Novosibirsk. Und abgesehen von ein bisschen mehr – ok, viel mehr – Wald auf den Bergen, ist es hier auch wie in Kirgistan (ehemaligen Sowietunion). Und abgesehen von den Dingen, die hier augenscheinlich anders sind als Zuhause, ist es hier auch wie überall.

Moderne Großbauten sehen heute weltweit ähnlich aus, überall laufen im Radio dieselben englischen Lieder und coole Kids sehen in Sibirien aus wie in Bangkok, wie in England, wie in Budapest, wie in Hamburg. Das alles hat nichts einzigartiges mehr.

Ich frage mich, wie 17-jährige Punk-Kids vor 100 Jahren in Ulan-Ude ausgesehen haben, bevor sie Gwen Stefani und Tokio Hotel im Fernsehen gesehen haben. Hatten sie neonbeschnürte Fellstiefel statt Chucks? Wie hat ihre Rebellion gegen Traditionen damals ausgesehen, bevor es einen medial verbreiteten internationalen Einheits-Codex für „cool“ und „modern“ gab?

Eigentlich finde ich es schade, dass die Welt immer mehr zusammenwächst. Ja, es macht vieles einfacher. Und vieles bunter, auf der einen Seite. Aber paradoxerweise auch vieles eintöniger, auf der anderen.

Ich sehe 20-jährige Burjatinnen mit ebenso „ash-blondierten“ Haaren, wie man es in London trägt und kaum mehr eine junge Frau in Deutschland ohne bunte Nike-Sneakers, die uns aus den USA zugespielt wurden. Ich sehe 14-Jährige auf den Philippinen Adidas-Thirts und Frauen in Mumbai Jeans mit Chanel-Taschen tragen, statt der farbenfrohen Gewänder ihrer Mütter.  Ich sehe gigantische Glasspiegelbauten aus saudischem Wüstenboden sprießen, Häuser, die in Frankreich oder Singapur entworfen wurden und die so überall stehen könnten. (Ich habe ein neues Ratespiel: Ich zeige dir die Luftaufnahme einer Großstadt und du rätst, welche es ist. Es ist – ohne die umliegende Landschaft zu sehen – fast unmöglich geworden!) Ich sehe Werbeanzeigen chinesischer Großunternehmen weltweit das Verhalten von Menschen beeinflussen und amerikanische Poptrends ihr Aussehen bestimmen. Und das Internet beschleunigt all diese Entwicklungen.

Wo früher per Schiff, Pferd oder Kamel Wissen langsam von Land zu Land weitergetragen wurde – von technischen Errungenschaften, Lebensmitteln und -weisen – transportieren soziale Medien heute in Echtzeit, wie man sich zu kleiden hat, was „hip“ ist, was „geht“ und was alles möglich ist. Trends, wie aufgerissene-Knie-Jeans, Undercuts, McDonalds, Tablets und Billigairlines verbreiten sich heute innerhalb kürzester Zeit an allen Enden der Welt. Und was an traditionellen Lebensweisen übrig ist, wird meist nur noch von der älteren Generation gelebt – bunte Klamotten, Kochkünste, kulturelle Besonderheiten. Die jüngere Generation hingegen vereinheitlicht immer mehr. Skinnyjeans, Smartphone, Sushi, Skyscraper. Everywhere.

Doch was wäre so schlimm daran, wenn wir weiter unsere Häuser im selben, regionalen Stil bauten? Wenn wir weiter Schlager hörten, Trachten trügen, nicht weltweit Burgerking, Pizza und Bananen äßen, sondern eben das, was es vor Ort gibt? Wenn wir aufhören würden, alles was „Tradition“ hat, als „uncool“ zu bewerten, sondern mit Stolz als Teil unserer regionalen, ganz besonderen Identität trügen, statt uns immer weiter in die Austauschbarkeit des internationalen „chick“ einreihen zu wollen? Dann würde die Welt im Ganzen doch viel spannender bleiben?

Was wird mit den Traditionen passieren, mit all der kulturellen Vielfalt, wenn die ältere Generation irgendwann ausstirbt? Wenn niemand mehr weiß, wie man Pel`meni zubereitet oder Semmelknödel, wie man Butter stampft, Natur-Balken-Häuser baut, Plattdeutsch spricht oder einen burjatischen Volkstanz tanzt? Wenn alle nur noch wissen, wie man in einem Supermarkt mit EC-Karte bezahlt und witzige Videos auf youtube guckt?

Werden wir zwangsläufig irgendwann rund um den Globus zu einer einzigen einheitlichen Menschenmasse? Mit denselben Klamotten, Speisen, Baustilen, Idealen, Lebensformen, und wenn, höchstens noch minimalen regionalen Unterschieden aufgrund von Klima, religiösen oder kulturellen Werten?

Ist das der natürliche Lauf der Menschheit? Und ist das sinnvoll und erstrebenswert? Bin ich nur altmodisch und perssimistisch?  Werden manche positive Unterschiede zwischen den Kulturen uns immer erhalten bleiben oder befindet sich die Vielfalt der Spezies Mensch, so im Ganzen, wirklich in einer ernstzunehmenden Gefahr? Und wenn ja, sollten wir gegenwirken? Oder einfach mitmachen und gucken, was daraus wird?

So oder so finde ich ja, McDonalds zu boykottieren, Smartphones und Lochknie-Jeans zu verweigern sind sinnvolle Handlungen. Aber die wenigsten von uns werden heute, egal wo, da es nun mal viele andere Optionen gibt, Lust haben, dieselbe Kleidung wie ihre Großeltern zu tragen und stundenlang alte Rezepte zu kochen. Und selbst dadurch würden wir, fürchte ich, die Vereinheitlichung der Welt nicht aufhalten können.

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