Harz – Wir glaubten an Frühling.

Wie eigentlich immer bei meinen Reisen, habe ich mich auch auf diesen Kurztrip nicht besonders vorbereitet. Ein Freund, Matthias, und ich wollten zusammen im Harz wandern gehen. Der Beschluss kam im Dezember und seitdem warteten wir das Frühjahr über sehnsüchtig auf “humane” Temperaturen, um unser Vorhaben endlich umzusetzen. Anfang März schien es so weit zu sein. In Bremen herrschten bereits laue 12 Grad und wir machten uns auf den Weg.

Das Auto parkten wir in Clausthal-Zellerfeld, auf einem Parkplatz am Waldrand, und starteten mit Zelt, warmen Klamotten und Proviant für 4 Tage. Ich hatte eine Landkarte, Matthias ein Smartphone und unbesorgt liefen wir in die Wälder hinein. Zu Beginn bewegten wir uns langsam und neugierig, guckten im Detail, entdeckten viel und schöpften kreativ aus der Umgebung – er fotografierte, ich zeichnete. Obwohl das längere Stillsitzen für ein Bild meine Extremitäten dort schon einfrieren ließ. Nach und nach begannen kleine Schneereste die Wegränder zu säumen und je weiter wir uns bergaufwärts bewegten wurden diese Häufchen immer mehr und größer.

Ich trug sogenannte “Trekkingschuhe”, die mir bisher in Schottland und anderenorts immer sehr gut gedient hatten. Trotzdem vermied ich es in die Schneeflächen zu treten, aus Angst, sie könnten vielleicht inzwischen doch undicht sein. Diese Angst war berechtigt, denn nach und nach suppten meine Wanderschuhe durch. Und gleichzeitig wurden die Schneeflächen, die erst nur Flecken im Wald waren, immer größer und überzogen bald, wenn auch flach, den ganzen Weg. Schon am Nachmittag des ersten Tages fanden wir uns an einer Wegkreuzung, die in vier Himmelsrichtungen folgendes zur Auswahl bot: Schnee, Schnee, Schnee oder Schnee! Da rückwärts für Reisende nie eine Option ist, beschlossen wir aus den vier “Übeln” den Weg zu wählen, den wir vorher schon ausgeguckt hatten. Erst noch vorsichtig in die Fußstapfen von Matthias tretend, merkte ich bald, dass es keinen Sinn hatte, mich gegen die feucht-kalt eindringenden Gefahr zu wehren. Meine Füße würden nass werden, ganz egal was ich täte. (Titanic-Unterton.)

Der Prozess, der in den folgenden Minuten in mir stattfand, ist einer, den ich immer erinnern werde und den ich für sehr wichtig halte. Innerlich habe ich geheult und geschrien, über die Ungerechtigkeit dieser Wetterlage und meine scheiß-Schuhe, äußerlich, beim tapferen Weiterstapfen in mein nasses Verderben, ein paar stille Tränen in den Schnee getropft. Und dann kam plötzlich das Grinsen. Das “scheiß-drauf!”. Das sich-abgefunden-haben mit einer Situation, die einfach nicht zu ändern ist. Akzeptanz. Und nach vorne blicken. Das Beste draus machen, konstruktiv an die Zukunft denken. Wie kann ich später im Zelt meine Füße warm und meine Schuhe wieder trocken kriegen? Wo werden wir überhaupt einen Platz zum Zelten finden können und wie können wir uns warm halten? Unter diesen Gedanken stapfte ich stoisch durch den immer tiefer werdenden Schnee meinem Vordermann in zunehmendem Nebel hinterher. Ab und zu versackte einer von uns in einem knietiefen Schneeloch, aber wir kämpften weiter bergan.

Als uns die Aussicht in dichtem Nebel (oder Wolken?) nach vorn mit Blick auf die Uhrzeit allmählich Sorgen bereitete, tat sich plötzlich die Silhouette eines großen, the-Shining-ähnlichen Gebäudes vor uns auf. Das Berggasthaus, das wir auf der Karte gesehen hatten! Da es allerdings außerhalb der Saison (sowohl Ski- als auch Sommer-) und bereits abends war, hatte es geschlossen. Wir wussten allerdings, dass wir an diesem Tag keinen besseren Zeltplatz mehr in den verschneiten Wäldern finden würden. Also umkreisten wir es aufmerksam auf der Suche nach irgendeiner Art von Unterschlupf für die Nacht. Und tatsächlich! Auf der Rückseite fanden wir eine offene Tür zu einem Holzlager. Heaven on earth! Schnell hatten wir ein paar rumliegenden Holzklobe beiseite geräumt und Platz für unser Zelt gemacht, das wir (da Heringe nicht in den Betonboden gingen) provisorisch an Balken festbanden. Und dann waren da zwei Schubkarren voll Asche. Weiß Gott warum. Aber sie luden uns praktisch dazu ein draußen unter einer Überdachung in ihnen ein Feuer zu machen. Daran konnte ich meine durchnassen Schuhe und Socken trocknen und wir saßen glücklich und entspannt über diese “Fügung” an den Flammen, sprachen, aßen und schwiegen.

Am nächsten Morgen wachten wir nicht von unseren Weckern auf, sondern durch Stimmen, die in “unseren” Holzschuppen kamen und wieder verschwanden. Aus schlechtem Gewissen und Angst, jemand könnte vielleicht die Polizei wegen vermeintlicher Einbrecher verständigen, sprang ich auf und lief völlig verschlafen in das gerade öffnende Gasthaus. Darin traf ich zwei Frauen, denen ich unsere Situation unter peinlich gestammelten Entschuldigungen erklärte, doch sie lachten nur und fragten, ob wir Kaffee oder Erbsensuppe zum Frühstück wollten. Nach aufgefülltem Wasser und Herzlichkeit setzten wir unsere Wanderung fort.

Zunächst ging es bergabwärts. Immernoch durch tiefen Schnee und ich musste schon bald einsehen, dass meine gerade getrockneten Schuhe in Kürze erneut durchweicht sein würden. Aber das kannte ich ja inzwischen schon. Und beim zweiten Mal tut alles nur halb so doll weh. Außerdem gab es keine Alternative. Das war die Realität. Und so kalt sie war, ich musste sie akzeptieren. Das hoffnungsvolle bergab (und damit in vermeintlich schneefreiere Gefilde) verwandelte sich in eine kilometerlange Geradeausstrecke durch immergleiche Tannen und Tiefschnee. Es war die Penetranz der Gleichförmigkeit, die uns an diesem zweiten Tag zu schaffen machte. Keine Veränderung der Landschaft oder des Ausblicks, geschweige denn der Schneemenge. Wir dachten, wie stiegen ab, aber wir liefen geradeaus.  Und für meine inzwischen wieder triefnassen Füße schien es keine Gnade zu geben.

Obwohl wir uns bemüht hatten so schnell wie möglich voranzukommen, um in eine schneeärmere Gegend abzusteigen, mussten wir am Nachmittag einsehen, dass es Zeit für eine Pause und ein Mittagessen war. Wir suchten uns eine Platz unter einem Baum, der ein wenig schneefreien Waldboden bot, kochten Tee und aßen Brot. Währenddessen fing es pötzlich an zu schneien. Die Flocken wurden immer dicker, nässten uns zunehmend völlig ein und raubten uns damit die kurze Erholungsphase, die wir dringend gebaucht hätten. Also liefen wir weiter.

Während der Pause hatte ich den dummen Versuch gemacht, meine nassen Socken und Schuhe auszuziehen, um sie zu trocknen und meine Füße kurzzeitig zu wärmen. Nun überkam mich die Kälte umso mehr, als ich zurück in meine eisgefrorenen Socken und triefenden Schuhe steigen musste. Meine Zehen waren vollkommen taub, ich spürte sie nicht mehr.  Ich fragte mich zum ersten Mal in meinem Leben ernsthaft, nach was für einer Zeit Zehen eigentlich abfrieren können. Während ich weiter energisch – um Reibung zu erzeugen – durch den zunehmenden Schneesturm voranstapfte, nahm meine Angst vor ernsthaften Schäden mit jeder Minute zu. 5 Minuten, 10 Minuten – noch immer kein Gefühl.

Ich überlegte, wie ich improvisieren könnte, würde ich nicht innerhalb der nächstenn15 Minuten das Gefühl für meine Zehen zurückbekommen. Plastiktüten um die Füße binden, um sie immerhin vor der Feuchtigkeit zu schützen, fiel mir ein. Aber zum Glück erholte sich mit der Bewegung allmählich auch nach und nach das Fühlen. Und dann trafen wir ganz plötzlich auf eine Landstraße. Die Landstraße, an der einige Kilometer bergabwärts unser Auto geparkt war.

So durchnässt und kalt wie meine Füße waren schien es die einzig sinnvolle Option zu sein, zurück zum Auto zu trampen und die darin liegenden Wolldecken zu nutzen, um warm zu werden. Das taten wir auch. Auch wenn es sich wie ein Aufgeben anfühlte – ich wollte keinen Schnee mehr sehen. So spannend diese Wanderung bisher in nur zwei Tagen auch war, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als aus den verschneiten Wäldern herauszukommen. Und das Auto bot angenehmen Schutz. Wir verbrachten darin die Nacht. Wir kochten im Kofferraum und froren ein kleines bisschen weniger als die Nächte zuvor, während der Schnee das Auto leise zudeckte.

An Tag drei fuhren wir so weit bergabwärts, bis kein Schnee mehr zu sehen war und sich ein paar Laubbäume und Kletterfelsen zwischen die endlosen Nadeln mischten. Dort verbrachten wir noch einenTag und eine Nacht mit Tageswanderungen vom Auto aus.

Auch wenn sich dieser Abschluss etwas feige angefühlt hat, war er wunderschön und zu jener Zeit mit der vorhandenen Ausrüstung vermutlich auch der einzig sinnvolle. Weiter im und gegen den Schnee zu kämpfen wäre zwar taff aber schlichtweg auch dumm gewesen. Es war meine erste Wanderung im Schnee. Und ich mag Schnee nicht. Aber es war auch so reizvoll mit diesem Naturphänomen eine neue, unbekannte Herausforderung gefunden zu haben, die ich bis dahin nicht kannte, dass ich im Nachhinein sogar Lust bekommen habe so etwas mit besseren Schuhen nochmal zu machen.

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